In den letzten zwölf Jahren durfte ich dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund als Präsident vorstehen. In diesen Jahren war ich stets um den Dialog innerhalb der jüdischen Gemeinschaft, aber genauso mit anderen religiösen Gemeinschaften bemüht, seien es die Christen oder die Muslime. Ich darf mich glücklich schätzen, dass es mir gelungen ist, mit vielen nicht jüdischen Menschen Freundschaften zu schliessen, die über ein Amt in einem Vorstand oder einer Arbeitsgruppe hinausgehen. Diese Erfahrung hat mir gezeigt, wie wichtig ein echter und ernst gemeinter Dialog ist. Wie wichtig es ist, dass wir mit anderen Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft, ihrer Kultur und Religion im Gespräch sind und bleiben.
Das ist der Grund, weshalb mir so viel am Projekt Doppeltür liegt: Weil es uns heute vermittelt, wie es zweien Bevölkerungsgruppen in vergangener Zeit – trotz allem – geglückt ist, miteinander auszukommen und Tür an Tür zu leben.
Wir müssen uns nichts vormachen: Die Juden blieben, auch nach ihrer Emanzipation im Jahre 1866 und ihrem Wegzug in die städtischen Zentren, oft nur geduldet. Aber die mehrheitlich friedliche Konvivenz, die die Juden und Jüdinnen mit ihren christlichen Nachbaren und Nachbarinnen im Surbtal erlebt haben, gab ihnen ein wichtiges Fundament. Als «Schweizer Juden» wurden sie wohl in der hiesigen Öffentlichkeit anders wahrgenommen und erreichten schon früher einen gewissen Wohlstand als die Juden und Jüdinnen, die am Anfang der 20. Jahrhunderts aus Osteuropa in die Schweiz kamen.
Zu diesen «Zugewanderten» gehörte auch meine Familie, die zwischen 1905 und 1910 aus Polen in die Schweiz kam und sich in Zürich niederliess. Dass sich meine Grosseltern und weitere Verwandten in mehrfacher Hinsicht von den «Hiesigen» unterschieden, habe ich, wenn wohl noch unbewusst, schon als Kind gemerkt. So war ich mir den Klang des polnischen Jiddischen, das meine Grosseltern sprachen, gewöhnt und dann doch erstaunt, dass das Surbtaler Jiddisch so ganz anders klang. In den so weit voneinander entfernten Teilen Europas, hatte sich die Sprache der ansässigen Juden tatsächlich sehr unterschiedlich entwickelt. Wir «Ostjuden» haben auch immer schon fast neidisch auf die wohlklingenden Namen der Surbtaler Juden geschaut: Guggenheim, Bloch, Bollag, Wyler und wie sie hiessen. Dagegen klangen die oft auf «-witz» endenden polnischen Namen in meinen Ohren weniger harmonisch.
Es ist aber erfreulich, dass es heutzutage keinen grossen Unterschied mehr macht, ob die Vorfahren aus dem Surbtal oder aus Osteuropa stammen. Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz ist trotz oder dank ihrer Heterogenität und Vielfalt zusammengewachsen. Wenn ich nun am Ende meiner Amtszeit als SIG-Präsident stehe, erfüllt es mich mit Freude und Stolz, dass ich diese Entwicklung mittragen und unterstützen durfte.
Ebenso wünsche ich mir, dass dem Surbtal mit dem Projekt «Doppeltür» wieder mehr Interesse entgegengebracht wird – denn es ist ein faszinierendes Stück Schweizer Geschichte, das quasi vor unserer Haustüre liegt. Beim SIG sehen wir Dialog und Aufklärung als wichtigstes Instrument im Kampf gegen Diskriminierung, Fremdenhass und Antisemitismus. Umso mehr halte ich das Projekt «Doppeltür» nicht nur aus historischen und kulturellen Gründen für wichtig und unterstützenswert, sondern auch mit Blick in die Zukunft: Denn wenn es 200 Jahre lang möglich war, dass Juden und Christen unter dem gleichen Dach wohnten, so sollte es auch heute möglich sein, dass Juden, Christen und Muslime, Schweizer und Ausländer, nebeneinander und doch miteinander in der Schweiz leben.
Dr. Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds SIG
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