Als wir vor bald 30 Jahre Jahren nach Lengnau zogen, kehrten wir ins Surbtal zurück, das mein Vater mit seinem Bruder vor rund 112 Jahren verlassen hatte, um in Winterthur eine Existenz aufzubauen. Wie viele junge Juden verabschiedete er sich damit von einer Gegend, die während Jahrhunderten seinen Vorfahren Wohnsitz gewährt hatte. Damals wohnten in Endingen und Lengnau etwa 1500 Juden, jetzt sind es noch an die 12!
Ich hätte nie gedacht, dass ich freiwillig hierherziehen würde. Meine Kindheitserinnerungen an das Surbtal sind eher negativ: Ich musste fast jedes Wochenende mit meinen Eltern die Verwandten in Endingen besuchen, Verwandte, die ich überhaupt nicht kannte, «uralte Frauen und Männer». Wenn ich jetzt zurückrechne, mögen sie etwa 50 bis 60 Jahre alt gewesen sein Aber als kleines Mädchen hatte ich den Eindruck, sie seien über hundertjährig, alle schwarz gekleidet, mit Gehstock und weissen Haaren. Ich war glücklich über jeden Todesfall und freute mich auf die Zeit, wo es keine Verwandten, das heisst keine Juden mehr in Endingen gab, nur noch Christen, die wir dann nicht mehr besuchen mussten.
Andere Erinnerungen an Endingen sind jedoch nicht so düster. So erinnere ich mich an die Geschichten meines Vaters, an den Zuckerbeck und an den Mazzenbeck, an die feinen Gerichte, die meine Mutter aus dem Kochbuch ihrer Schwiegermutter herstellte: Hördöpfeldüne, Räbebappe, Gutelesch, Kauletsch. Für jeden unserer Feiertage gab es eine Endinger Spezialität zum Essen. Seltsamerweise sprach überhaupt niemand von Lengnau, es gab zwar auch «die aus Lenglech», aber das waren eben keine «Endinger».
Mein Vater war einer der ersten Hobby-Filmer und so besitze ich Dokumente aus dem frühen 20. Jahrhundert, wo sich die ganze Familie in Endingen einfand. Die meisten kamen mit dem Postauto, die Dorfmusik spielte und man stand mit Schabbeskleidern, die Frauen mit Hut, die Männer mit Gilet und Uhrenkette, vor der Synagoge. Es kamen Hunderte, wenn eine Hochzeit stattfand, wenn im Altersasyl (so hiess das Alters- und Pflegeheim Lengnau damals) ein Jubiläum gefeiert wurde oder wenn man sich an den Jontefs (Feiertage) traf.
Die Endinger Juden waren und sind noch heute speziell, um nicht zu sagen exklusiv. So wäre es meinem Vater auch nach Jahrzehnten nicht eingefallen, sich um das Winterthurer Bürgerrecht zu bewerben. Und als ich meinen Freund und späteren Ehemann nach Hause brachte, war die ganze Sippe entsetzt: Ich hatte mich in einen «Pollacken» verliebt, in einen jüdischen Burschen, dessen Vorfahren aus Polen eingewandert waren, der nicht aus Endingen, nicht einmal aus dem Aargau stammte. Er lebte zwar bereits in der dritten Generation in der Schweiz, aber eben, er war kein Endinger. «Hättest Du nicht einen von uns finden können?» Es war ebenso schlimm, wie wenn ich einen Schwarzen, einen Christen oder einen Russen geheiratet hätte. Erst als er sein Dienstbüchlein der Schweizer Armee vorwies, akzeptierte man ihn halbwegs.
Im Nachhinein bedauere ich es, dass ich mich nicht intensiver um die jüdischen Endinger Bräuche gekümmert habe. Aber damals haben mich diese alten Geschichten wirklich nicht interessiert. Und dass ich einmal hier wohnen würde, nein, das hätte ich nicht im Traum gedacht. Und dass ich sogar Schulklassen, Konfirmandengruppen, Frauenvereine, Kirchenvorstände, Lesezirkel und viele mehr durch das Surbtal führen und ihnen die alten Judendörfer mit ihren Synagogen und dem Israelitischen Waldfriedhof zeigen sollte, das war ebenso wenig vorhersehbar. Nun muss ich die alten Traditionen und Geschichten mühsam zusammensuchen. Aber natürlich hat auch dies seinen Reiz, denn immer wieder stosse ich auf Begebenheiten, von denen ich irgendwo, irgendwann mal gehört habe…
Käthi Frenkel
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